(ip/pp) Ob ein mittelalterliches Gewohnheitsrecht, das sogenannte „Inwiekenrecht" in Rhauderfehn in Ostfriesland weiterhin Gültigkeit hat, hatte der Bundesgerichtshof in einem aktuellen Verfahren zu entscheiden. Bei dem Inwiekenrecht handelt es sich um das Recht auf Benutzung eines Randstreifens der Anliegergrundstücke einer Inwieke (Nebenkanal), auf dem Landweg von der Hauptwieke (Hauptkanal) aus. Der Entscheidung lag die Klage von zwei Grundstückseigentümern zugrunde, die die benachbarten Grundstückseigentümer auf Benutzung einer an einer Inwieke angrenzenden Grundstücksfläche als Weg verklagt hatten. Die Ostgrenze des Grundstücks der Beklagten verlief in der Mitte einer heute teilweise zugeschütteten Inwieke. Entlang der Inwieke befand sich ein Weg. Die Beklagten hatten auf ihrem Grundstück einen Metallzaun errichtet und damit die Wegenutzung entlang der Inwieke durch die Kläger verhindert. Sie beriefen sich u.a. darauf, das Inwiekenrecht habe seine Geltung infolge des neuzeitlichen Strukturwandels verloren.

Das Landgericht Aurich hatte der Klage stattgegeben und die Beklagten auf Duldung der Benutzung des Weges auf einer Breite von 3 Metern verurteilt. Dieses Urteil wurde vom Oberlandesgericht Oldenburg bestätigt. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts habe sich im ostfriesischen Fehngebiet die allgemein befolgte Regel gebildet, dass jeder Anlieger einer Inwieke berechtigt ist, von der Hauptwieke aus entlang der Inwieke den über die Grundstücke anderer Anlieger führenden Weg zu benutzen, um zum eigenen Grundstück zu gelangen. Diese Regel sei weiterhin bindendes Gewohnheitsrecht, und zwar auch für den Fall, dass inzwischen noch andere Zugänge zu den hinterliegenden Parzellen bestünden. Da das Inwiekenrecht von den betroffenen Kreisen der Bevölkerung nahezu ausnahmslos nach wie vor als allgemein verbindliches Recht angesehen und beachtet werde, sei es ein auch heute noch geltendes Gewohnheitsrecht.

Die betreffende Klage führte bis zum BGH – und der gab den Vorinstanzen Recht: “Auch nach Inkraftreten der Zivilprozessreform 2002 kann die Revision nur auf die Verletzung von Landesrecht gestützt werden, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk eines Oberlandesgerichts hinaus erstreckt."

„Das Berufungsgericht meint, nach der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass sich im Fehngebiet um Rhauderfehn eine bis heute von den betroffenen Kreisen der Bevölkerung allgemein befolgte Regel herausgebildet habe, wonach jeder Eigentümer oder Nutzer eines an einer Inwieke gelegenen Grundstücks berechtigt sei, von der Hauptwieke aus entlang der Inwieke den über die Grundstücke der jeweils anderen Anlieger führenden Weg zu benutzen, um zu den dahinter liegenden Grundstücken zu gelangen. Das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs habe an der Geltung des spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestehenden Gewohnheitsrechts nichts geändert. Das Inwiekenrecht bestehe unabhängig davon, ob die Kläger auf die Benutzung des Weges angewiesen seien, um ihr Grundstück zu erreichen, und unabhängig davon, ob sie von dem Recht einige Jahre keinen Gebrauch gemacht hätten. Ebensowenig komme es darauf an, dass die Inwieke zwischenzeitlich zugeschüttet sei und dass sich die Kläger Zugangsmöglichkeiten über ihr eigenes Grundstück durch Errichtung eines Bauwerks begeben hätten.“

BGH, Az.: V ZR 35/08