(ip/pp) Hinsichtlich der Frage, wann ein Bieter positive Kenntnis eines Vergabeverstoßes habe, hatte das Oberlandesgericht (OLG) Dresden aktuell zu entscheiden. Die Antragsgegnerin hatte mit europaweiter Vergabebekanntmachung das Vorhaben "Lieferung eines mandantenfähigen VoIP-Telekommunikationssystems mit Endgeräten für mindestens 5.800 Rufnummern an ca. 50 Standorten und den Aufbau einer Teststellung einschließlich 200 Endgeräten und aller Applikationen in den Räumen der Auftraggeberin" im offenen Verfahren ausgeschrieben. Nach mehreren Änderungen der EU-Vergabebekanntmachung wandte sich die Antragsgegnerin an alle Interessenten im Vergabeverfahren und teilte diesen mit, dass die ursprüngliche EU-Vergabebekanntmachung aufgehoben werde und in Kürze neu veröffentlicht werde. Darauf veröffentlichte die Antragsgegnerin das Beschaffungsvorhaben erneut und übergab die neuen Angebotsunterlagen der Antragstellerin, die der Antragsgegnerin in der Folge mehrere Rügeschreiben übersandte.

Dann beantragte die Antragstellerin bei der 1. Vergabekammer des Freistaates Sachsen die Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens - mit der Maßgabe, der Auftraggeberin zu untersagen, das Vergabeverfahren fortzuführen, insbesondere die Angebote zu öffnen und in die Wertung einzutreten, sowie das Vergabeverfahren aufzuheben und erneut auszuschreiben. Die Vergabekammer des Freistaates Sachsen wies die Anträge zurück – und die Antragstellerin reagierte mit sofortiger Beschwerde. Eine "Fiktion", wie von der Vergabekammer vorgenommen, wonach mit Kenntnis der Ausschreibungsunterlagen zugleich Kenntnis aller darin enthaltener möglicher Vergaberechtsverstöße vorläge, sei unzulässig. Eine Befassung mit der Leistungsbeschreibung trage nicht den Schluss, ein Bieter habe Vergabeverstöße schon bei dieser Gelegenheit erkannt. Im Übrigen treffe den Bieter keine Pflicht zur sofortigen Prüfung der ihm zugesandten Verdingungsunterlagen. Bestünden Zweifel an der Rechtslage, sei eine positive Kenntnis bereits deshalb ausgeschlossen. Bei Einholung von Rechtsrat werde die Kenntnis vom Vergaberechtsverstoß und damit die Rügeobliegenheit erst mit dessen einen Vergaberechtsfehler aufzeigenden Zugang ausgelöst. Die Regelungen eines Vertrages über die Lieferung eines VoIP-Telekommunikationssystems bürdeten dem Bieter in vergaberechtswidriger Weise ein ungewöhnliches Wagnis auf. Nach den vertraglichen Regelungen, insbesondere § 11 des Vertrages, schulde der Auftragnehmer einerseits den Gesamterfolg des Vertrages, er trage das volle Erfolgsrisiko, insbesondere das Vergütungs- und Mängelrisiko, obwohl er andererseits auf die Installation und Inbetriebnahme des weitaus größten Teils der Anlage keinen Einfluss habe, da dieser seitens der Auftraggeberin selbst installiert und in Betrieb genommen werde. Darüber hinaus trage der Bieter auch das Risiko für Schäden, die während des Transportes durch die Antragsgegnerin vom Hauptlager zum Endbestimmungsort entstehen können, wie sich aus den Regelungen in § 8 des Vertrages entnehmen lasse. Für den Bieter sei in keiner Weise kalkulierbar, welches Schadensrisiko er mit der Pflicht zum Austausch defekter Komponenten nach § 8 Ziffer 6 des Vertrages übernehme, da er im Ergebnis auch für solche Fehler einstehen müsse, die nicht in seinen Risikobereich fielen, sondern durch einen nachträglichen Eingriff in seine Leistungen entstehen. Ebenfalls lasse das mit den vertraglichen Regelungen zum Gefahrübergang und der Abnahme verbundene Risiko keine Kalkulation nach kaufmännischen Grundsätzen zu. Zudem verstießen die Regelungen des Vertrages gegen geltendes Vergaberecht, da sie entgegen § 9 Nr. 2, Nr. 3 VOL/A von der VOL/B abwichen – und es handele es sich seitens der Antragsgegnerin um eine Scheinausschreibung.

Eine solche sei nämlich dann anzunehmen, wenn die Ausschreibung durchgeführt werde, ohne dass eine konkrete Vergabeabsicht und auch die tatsächliche Möglichkeit der (unbedingten) Zuschlagserteilung bestehe. Dies sei aufgrund des Missverhältnisses zwischen geschätztem Auftragswert von 1,5 Mio. EUR und den tatsächlich zu erwartenden Angebotspreisen der Bieter gegeben. Zudem handele es sich bei dem von der Antragsgegnerin vorgelegten Konvolut nicht um eine Vergabeakte i.S. der VOL/A. Die überreichten Unterlagen machten deutlich, dass weder die Vergabeakte noch das Vergabeverfahren selbst von der Antragsgegnerin geführt worden sei, sondern vielmehr allein von den von ihr beauftragten Rechtsanwälten. Auch hätten die Antragsgegnerin bzw. die von ihr beauftragten Rechtsanwälte gegen die Dokumentationspflichten verstoßen. Insbesondere fehle es am Nachweis der Kostenschätzung.

Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hatte vor dem OLG überwiegend Erfolg. Das Vergabeverfahren sei in den Stand vor Versendung der Vergabeunterlagen zurückzuversetzen. Eine Aufhebung des Vergabeverfahrens sei dagegen nicht realistisch. “1. Nach § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB ist der Nachprüfungsantrag unzulässig, soweit der Antragsteller den gerügten Verstoß gegen Vergabevorschriften bereits im Vergabeverfahren erkannt und gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber nicht unverzüglich gerügt hat. Erforderlich ist insoweit eine positive Kenntnis des Vergaberechtsverstoßes. Dies setzt voraus, dass der Antragsteller zum einen von den tatsächlichen Umständen, auf die er den Vorwurf einer Vergaberechtsverletzung stützt, volle Kenntnis hatte. …Zum anderen ist die zumindest laienhafte rechtliche Wertung notwendig, dass es sich um ein rechtlich zu beanstandendes Vergabeverfahren handelt. Eine Obliegenheit, sich die maßgeblichen Kenntnisse durch eigene Nachforschungen zu verschaffen, besteht indessen gem. § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB nicht.”

“ Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn der Wissensstand des Antragstellers (in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht) einen solchen Grad erreicht hat, dass seine gleichwohl nicht sichere Kenntnis von dem Vergaberechtsverstoß darauf beruht, dass er sich ihr mutwillig verschlossen hat. Dass die strengen Voraussetzungen für eine derartige - den Anwendungsbereich des § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB erweiternde - Ausnahme bei einem Bieter vorlagen, hat der Auftraggeber darzulegen.”

OLG Dresden, Az.: WVerg 11/08